Autor | Thomas Cadène / Benjamin Adam |
Verlag | Carlsen |
Umfang | 213 Seiten |
ISBN | 978-3-551-78760-6 |
Preis | Fr. 37.90 (UVP) |
Zukunftsvisionen unterscheiden sich üblicherweise recht leicht erkennbar in Utopien und Dystopien – das scheint unserem Sinn für Ordnung zu entsprechen. Der französische Comicautor Thomas Cadène mag sich dieser Vereinfachung trotzdem nicht leichthin unterwerfen. Der von ihm mit beeindruckender Detailfülle imaginierte Zukunftsentwurf ist beides zugleich… und somit keins von beidem. Hoffnungsfroh utopisch präsentiert sich erst einmal die Grundprämisse seines Comics: Die Menschheit steht kurz davor, im Zuge der Mission SOON den Weltraum zu kolonisieren. „Die Menschheit“; das sind dann aber nur noch sieben abgekapselte Siedlungsräume über den gesamten Erdball verteilt. Diese letzten Städte bereist nun der trotzige Juri im Schlepptau seiner Mutter Simone Jones. Sie ist die wesentliche Initiantin und auch prominente Teilnehmerin jener anstehenden Weltraummission, die der von Klimawandel, Artensterben, Kriegen und einer globalen Pandemie arg gebeutelten Menschheit ein zweites Standbein sichern soll…
Angelegentlich dieser Tour - die auf Juris endgültigen Abschied von seiner getriebenen, abwesenden Mutter hinausläuft - erhalten wir Einblick in die Kulturen und Gesellschaftsmodelle der letzten Bastionen der Menschheit in ihrem Kampf um eine nachhaltige Existenzsicherung in der sich erst wieder regenerierenden Natur. Daneben zeichnet uns Thomas Cadène den verlustreichen Weg nach, den die Menschheit, ausgehend von unseren aktuellen Problemen, bis zu ihrer fragilen Neuordnung im Jahr 2151 zurückgelegt hat. Es geht ihm dabei nicht um Prophetie, sondern um die abwägende, vielschichtige Auseinandersetzung damit, was ein Dasein in einer zunehmend ihrer natürlichen Ressourcen beraubten Umwelt für uns bedeutet. Dafür bedient er sich keiner erlösenden Kunstgriffe: Die Menschen, die er uns vorstellt, haben keinen plötzlichen Quantensprung ihres moralischen oder ökologischen Bewusstseins getan. Sie sind, in ihren Bedürfnissen, ihren Mängeln und Tugenden, wir selbst.
Ginge es nun nur nach den Zeichnungen, hätten wir dieser so geist- wie einfallsreichen Graphic Novel wohl keine verstärkte Aufmerksamkeit gegönnt. Benjamin Adam illustriert sie in jenem flächigen, schablonenhaften Stil, den wir erfahrungsversehrt mit bemühter Künstelei verbinden, und koloriert sie dann in der reduzierten Dreifarbigkeit, deren einstige Originalität sich ebenfalls schon vor einiger Weile abgenutzt hat. Da uns Prämisse und Gehalt des Bandes aber schon nach wenigen Seiten fest am Zügel hatten, durften wir bald feststellen, wie sich dieser Stil ganz prächtig in Form und Intention der Erzählung einfügt. Der Künstler erlaubt uns damit die rationale Abstandsnahme zum feingezeichneten Weltentwurf ebenso, wie er dann die emotionale Anteilnahme zulässt und sensibel ausgestaltet. Gleichzeitig gelingt es ihm dieserart, ganz formal, die „dokumentarischen“ Abschnitte der Erzählung mit der bewegten Heldenreise reibungslos zu verbinden.
Autor und Zeichner stellen gleichermassen Ansprüche an die Leserinnen. Nicht zuletzt überlassen sie es auch weitgehend diesen, wie ihre Geschichte zu lesen sei. Man kann sich dem Comic als einer feinsinnigen Coming-of-Age-Erzählung nähern, als einer nüchternen Warnung angesichts der politischen und ökologischen Bedrohungen der Gegenwart, als einem klug visionären Weltentwurf oder als einer belangreichen Diskussion zum Wert von Grundlagenforschung und Raumfahrt. Wir selbst lasen ihn als berührenden Bericht und Anstoss einer Versöhnung: Vordergründig des entwurzelten Juri mit seiner idealistischen Mutter, vor allem aber auch des gedemütigten Menschen mit seiner niemals ganz unabhängigen Stellung in Gesellschaft, Natur und Universum. Er beeindruckte und bereicherte uns in dieser Lesart ebenso, wie er es voraussagbar in allen anderen wird.
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