Die Faltung der Welt
Anders Levermann unternimmt in seinem Buch einen ambitionierten Versuch, Wohlstand und Fortschritt neu zu denken und zu gestalten, ohne dafür die demokratischen Freiheiten zu opfern.
Die Erkenntnis, dass eine nachhaltige Zukunft insbesondere auch einer neuen Erzählung von Wohlstand und Fortschritt bedarf, wurde schon verschiedentlich laut. Dass unendliches Wachstum auf einer endlichen Welt nicht zu haben ist, dürfte auch bereits ins öffentliche Bewusstsein gedrungen sein. Ein attraktives Narrativ, wie trotz dieser Endlichkeit ein anhaltendes Wohlergehen neu zu denken sei, hat sich derweil noch nirgends festgesetzt. Ein solches Denkmodell stellt nun Anders Levermann in seinem Buch zur Diskussion. Als Physiker und Komplexitätsforscher greift er dazu auf die Mathematik zurück: Die titelgebende „Faltung“ beruft sich auf ein chaostheoretisches Modell der voranschreitenden Erkundung eines begrenzten Systems, wie es unsere Erde – und damit auch unsere Wirtschaft – eben darstellt. Aus diesem theoretischen Ansatz entwickelt er ganz gegenständliche, pragmatische Vorschläge, wie sich dem Klimawandel und der wachsenden wirtschaftlichen Ungleichheit entgegentreten liesse.
Stellen wir uns einen Vogel vor. Dessen Flug wird oben von der sich ausdünnenden Atmosphäre, unten vom Erdboden begrenzt. Unendliche Bewegungsfreiheit ist ihm damit nicht gegönnt. Dennoch wird er sich davon kaum in seiner Freiheit eingeschränkt fühlen: Solange er vor der Erreichung seiner Grenzen jeweils abdreht, stehen ihm unzählige neue Wege offen... Dieses Abdrehen vor der Grenze: Das ist – arg simplifiziert – die „Faltung“. Anders Levermann setzt diesen Gegenentwurf zum landläufigen „Weiter, schneller, mehr“ in seinem Buch in den Kontext der grössten Probleme unserer Zeit. Sich der Unattraktivität des Verzichts und der Notwendigkeit einer (wie auch immer gearteten) Fortentwicklung bewusst, schlägt er vor, sich hauptsächlich der grossen Grenzen unseres Lebens- und Wirtschaftsraums deutlicher bewusst zu werden: Nicht nur mental, sondern auch juristisch, politisch, unternehmerisch. Dem Mikromanagement der einzelnen Probleme stellt er fünf grosse Grenzen entgegen, an denen sich unbedingt zu orientieren wäre: Ein Ende der Verbrennung fossiler Energieträger, ein Ende des Rohstoffabbaus, die Begrenzung der Unternehmensgrösse, die Begrenzung der vererbbaren Güter sowie die Begrenzung des Einkommensunterschieds. Wie innerhalb dieser Grenzpunkte zu manövrieren und sie überhaupt sozial zu manifestieren wären, dazu macht er dann – nach der bemerkenswert anschaulichen und leichtverständlichen Darlegung seines Denkmodells – zahlreiche lösungsorientierte Vorschläge.
Dass diese Lösungsvorschläge sich einer Reihe von Ideen entlanghangeln, die schon anderswo (und mit gleicher Anfälligkeit zum kritischen Einspruch) ausgearbeitet wurden, mögen wir dem Autor nun nicht zum Vorwurf machen. Es geht ihm ja darum, sie im Entwurf eines neuen Narrativs zweckvoll zusammenzuführen – was ihm dank seiner verständlichen Beispiele und flüssigen Darstellung auch anstandslos gelingt. Schon schwerer wiegt es, dass wir an der Breitentauglichkeit seines Denkmodells unsere Zweifel haben. Er selbst benötigt so einige Seiten, es uns nahezubringen, und intuitiv greifbar erzählt es sich uns auch danach noch nicht. Dennoch war uns sein Buch jeden Moment der Lektüre wert. Er versteht es vorzüglich, uns Komplexitäten – egal ob jene des Klimawandels oder des Wirtschaftsgeschehens – eingängig verständlich zu machen; insbesondere auch dem eher mathematischen Geist, der von derlei Publikationen seltener adressiert wird. Ebenfalls balanciert sein Überblick über die anstehenden Herausforderungen deren jeweilige Gewichtung und Dringlichkeit planvoll aus. Anders Levermann führt damit ambitionierte Visionskraft und nüchternen Pragmatismus so nahtlos zusammen, wie es für jede ernsthafte, gleichwohl inspirierte Zukunftsgestaltung unabdingbar ist.
Autor | Anders Levermann |
Verlag | Ullstein |
Umfang | 271 Seiten |
ISBN | 978-3-550-20212-4 |
Preis | Fr. 33.90 (UVP) |
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