Raubtiere als Schlüsselarten: Der Wolf

Raubtiere haben oft einen schlechten Ruf als rücksichtslose Unruhestifter. Doch ihr Jagdinstinkt hilft unter anderem Ökosysteme im Gleichgewicht zu behalten – sie sind damit wichtige Schlüsselarten.

Raubtiere als Schlüsselarten: Der Wolf
Der Wolf als wichtige Schlüsselart im Ökosystem (Milo Weiler, Unsplash)

Wir alle kennen es – sobald es nachtet, wird uns oft ein wenig bange. Fast so, als wollten wir unsere Sinne schärfen für einen möglichen Angriff aus der Dunkelheit. Wie sich herausstellt, ist dieses Gefühl gar nicht so weit hergeholt. Es gibt nämlich einen evolutionären Grund für unser Verhalten.

Der böse Wolf

Über die längste Zeit mussten wir Menschen vor Raubieren auf der Hut sein. Besonders in der Nacht, wenn wir uns weniger auf unsere Augen verlassen konnten und die meisten Räuber aktiv waren. Diese erhöhte Aufmerksamkeit konnte uns damals unter Umständen das Leben retten und ist deshalb noch heute eine tief verwurzelte, natürliche Reaktion auf unsere Umwelt.

Durch die zivilisatorische Entwicklung ist die von Raubtieren ausgehende Gefahr mittlerweile immer mehr in den Hintergrund gerückt. Allerdings fällt es uns noch immer relativ leicht, Raubtiere als «böse» darzustellen. Schliesslich sind es diese Jäger, die friedlich weidende, nichtsahnende Antilopen blutig attackieren. Filme wie «Der Weisse Hai» helfen da auch nicht. Beginnen tut dies allerdings schon im Kindesalter mit beliebten Grimm-Märchen wie Rotkäppchen und dem bösen Wolf, die dieses Feindbild – bewusst oder unbewusst – zusätzlich untermauern.

Der «Top-down-Effekt» und das ökologische Gleichgewicht

Dabei spielen Bär, Löwe und Tiger als Schlüsselarten eine nicht zu unterschätzende Rolle im Ökosystem. Sie sind für den sogenannten «Top-down-Effekt» verantwortlich – die Raubtiere sorgen indirekt dafür, dass die Vegetation hinreichend gedeiht, indem sie die Zahl der Pflanzenfresser dezimieren. Ausserdem jagen sie bevorzugt leichten Fang wie kranke und alte Individuen. Dies wiederum stärkt den Gesamtbestand von Beutetieren.

Doch die stolzen Fleischfresser sind gefährdet – weltweit nimmt die Zahl der grossen Raubtiere in über 75 Prozent der Fälle ab.
Welchen Effekt hat aber das Verschwinden einer grossen Raubtierart auf das Gleichgewicht eines Ökosystems?

Wolf im Yellowstone National Park

Im amerikanischen Yellowstone Park wurden Wölfe im Jahr 1920 als ausgestorben erklärt – hauptsächlich das Werk der Regierung als «Schädlingskontrolle». Während 70 Jahren galt der Nationalpark als wolffrei, was zu einem Kollaps des Ökosystems führte. Da sie nur noch zeitweise von Schwarzbären und Grizzlys gejagt wurden und nicht mehr von ihrem Hauptfeind, dem Wolf, vermehrten sich die Elche uneingeschränkt und frassen sich durch die Vegetation; vor allem Weidenbäume, Espen und Pappelhaine wurden regelrecht niedergemäht. Anderen Bewohnern wie dem Biber mangelte es daraufhin an Nahrungsmitteln, was zu seinem Populationsrückgang führte. Die Biberdämme, die zuvor den Fluss zu verlangsamen und geeignete Lebensräume zu schaffen vermochten, wurden also immer seltener gebaut. Vögel, Amphibien und andere Tiere verloren daraufhin viele qualitativ wertvolle Habitate, die durch die gestauten Biberteiche entstanden waren.
Da zu viele Elche also zu viel frassen, wurden immer wieder Individuen gefangen und umgesiedelt. Und, als selbst dies die Situation nicht entscheidend entschärfte, getötet. Da dies aber eines Nationalparks nicht würdig war, begann man sich vermehrt mit dem Gedanken zu befassen, die Wölfe wiederanzusiedeln.

Mehr Artenvielfalt durch Wiederansiedlung

Die Freilassung von 41 Wölfen zwischen 1995 und 1997 im Yellowstone National Park führte im Laufe von Jahrzehnten zur schrittweisen Erholung des Ökosystems und einer erhöhten Biodiversität. Mit dem Rückgang der Elche spürten andere Tierarten wie Bisons und Biber weniger Konkurrenz und ihre Populationen erholten sich wieder. Direkt oder indirekt konnten eine grosse Anzahl von Tier- und Pflanzenarten von der Wiederansiedlung des Fleischfressers profitieren – Nahrungsnetze wurden wiederhergestellt. Obwohl heute drei Mal mehr Elche den Yellowstone Park bewohnen als zur Zeit des grossflächigen Vegetationsrückgangs, nehmen beispielsweise die Weidenbäume keinen nennenswerten Schaden mehr. Der von den Wölfen ausgehende Räuberdruck hält die Beutetiere in ständiger Bewegung, sodass sich die Vegetation jeweils wieder zu regenerieren vermag.

Die Situation in der Schweiz

Seit der Ausrottung im 19. Jahrhundert steigt die Anzahl der Wölfe in der Schweiz und benachbarten Ländern derzeit wieder an – der Wolf erobert damit Teile seines ehemaligen Lebensraumes zurück. Der Wolf hat in stärker besiedelten Ländern wie der Schweiz einen schweren Stand – vor allem, wenn er sich sein Abendessen gelegentlich beim Bauern holt. Die meisten Tiere verhalten sich allerdings unauffällig und ernähren sich von wilden Pflanzenfressern. Ihre lange Abwesenheit aber hatte Konsequenzen. Damit unsere Wildhuftierbestände trotzdem gesund sind und die Vegetation erhalten bleibt, musste die ursprüngliche Funktion des Wolfes als Regler von Hirsch-, Reh- oder Gämspopulationen von Jägern übernommen werden. Mit der Rückkehr des Raubtieres sowie der ansteigenden Bevölkerungsdichte in der Schweiz bleibt abzuwarten, wie sich unsere komplizierte Beziehung mit dem stolzen Raubtier in Zukunft entwickeln wird. Die Jäger selbst sehen seine Rückkehr zunehmend eher entspannt und weniger als Konkurrenz. Wie auch breite Teile der Bevölkerung erleben sie den Wolf als eine Bereicherung der heimischen Natur. 

Nächste Woche..

Man ist oft versucht, Raubtiere mit Landschaften wie den Alpen oder der Savanne Afrikas zu verknüpfen. Andere Schlüsselarten wie der Seeotter und Hai sind aber im Meer zu Hause. In der nächsten Folge dieser Serie wird gezeigt, inwiefern diese Räuber unentbehrlich sind für ihr spezifisches Ökosystem. 

Quellen und weitere Informationen
Science Alert: There's an Evolutionary Reason Why We're Afraid of the Dark
Yellowstone Park: Wolf Reintroduction Chances Ecosystem
Ripple, W.J. und Beschta, R.L. (2012): Trophic cascades in Yellowstone