Muss i denn zum Städtele hinaus? Ach, nö...

02 Sep 2016
Romantisch! Wenn auch nicht unbedingt das, was wir uns unter ökologischer Siedlungsplanung vorstellen. Romantisch! Wenn auch nicht unbedingt das, was wir uns unter ökologischer Siedlungsplanung vorstellen.

Wir gehen gern auf Städtereisen. In einer Stadt wohnen möchten wir dann aber – selbst wenn wir das bereits tun – irgendwie doch nicht. Sollten wir aber.

Die Schwärmerei von der Natur kommt von der Unbewohnbarkeit der Städte, schrieb einst Bertolt Brecht. Er musste es wissen, schliesslich wohnte er beträchtliche Zeit seines Lebens in Städten. In ähnlicher Stimmung und ähnlicher Zeit liess auch der deutsche Reichsaussenminister Stresemann bezüglich der Grossstadt verlauten: “Nirgends mehr geht die Einzelpersönlichkeit zugrunde als in diesen Stätten der Massensuggestion“. Und so weiter, und so fort. Städte haben’s schwer. Wir starten deshalb unsere neue Freitags-Serie zur Urbanisierung und neuen Siedlungsformen in der Schweiz mit einer kleinen Ehrenrettung unserer Städte.

Die Unbewohnbarkeit der Städte

Man mag es angesichts des sich durch die Geschichtsschreibung ziehenden Städtebashings kaum glauben, aber das Leben in Städten scheint dem Gruppentier Mensch recht selbstverständlich zu entsprechen. Es (das Gruppentier) baute, kaum hatte es die nomadische Lebensweise aufgegeben, feste Häuser, dann bald öffentliche Häuser (kaum stehen drei Häuser zusammen, baut ein Gastwirt das vierte), dann eine Mauer drumrum: Voilà, die Stadt.

Das brachte ein paar Probleme mit sich. Diese waren hygienischer Natur einerseits, vor allem aber auch sozialer, wenn das traditionelle InGroup/OutGroup-Denken einsetzte oder dem Nachbarn die familiäre Sangeskunst nicht zusagte. Da hoben Rechtsprechung, Verwaltung und Arbeitsteilung die Köpfe. Man kann es nun insgesamt für einen Irrweg halten, dass wir das nomadische Leben aufgaben, doch auf dem dieserart eingeschlagenen Weg wurden die Städte zur Wiege der Zivilisation.

Bis zu einer Urbanisierung, die diesen Namen verdient, war es dann gleichwohl noch ein langer Weg. Breitenwirksam attraktiv wurden die Städte – in der Schweiz, aber auch anderswo – erst mit der Industrialisierung. In den anderthalb Jahrhunderten zwischen 1850 und 2000 stieg der Urbanisierungsgrad in der Schweiz von 8,7% auf 73,3%. Mehr als zwei Drittel unserer Bevölkerung leben heute in der Stadt und ihrem urbanen Umfeld. Können so viele Schweizerinnen und Schweizer irren? Klar, können sie: Tatsächlich waren die Städte ja die meiste Zeit des letzten Jahrhunderts in schlechtem Zustand. Mit der begeisterten Preisgabe dieses menschlichen Lebensraums an Industrie und Autoverkehr stiegen die Luft-, Wasser- und Lichtverschmutzung sowie der Lärm, mit den Konsumprodukten trat dazu ein wachsender Abfallberg. Die Erholungsräume schrumpften derweil zwischen den aufstrebenden Wohn- und Büroblöcken zur Marginalie.

Die Schwärmerei von der Natur

Den gesundheitlichen Gründen zur Stadtflucht trat spätestens mit der 68er-Generation ein ideologischer hinzu. Zum aufkeimenden ökologischen Bewusstsein gesellte sich die Sehnsucht nach einer möglichst “wilden“ Natur. Rousseau war angesagt, Beton war grau, "Landlust" stieg zur bestverkauften deutschen Zeitschrift auf und StädterInnen waren fürderhin nicht mehr nur arrogant, sondern auch gehetzt, entfremdet, bedrückt, gleichgeschaltet oder/und einsam.

Natürlich war diese zeitgeistige Ächtung der Stadt nicht der einzige, wahrscheinlich nicht einmal ein vordringlicher Grund für den Exodus ins Grüne, der in den Siebzigern einsetzte. Zeitgleich zog sich die Industrie zurück, Autos wurden zur Selbstverständlichkeit, und der durchschnittliche Wohlstand wuchs. Doch die Idee, dass der Natur schon dadurch irgendwie geholfen sei, wenn wir uns ihr nur sattsam verbunden fühlen, schwebte dabei beharrlich im Hintergrund.

Kontrastierend dazu ein paar Zahlen: Zwischen 1970 und 2000 stieg die Zahl der Einfamilienhäuser um 126,2%. Daneben (oder im Zuge dessen) wuchs der Anspruch an die persönliche Wohnfläche von 26,2 Quadratmetern im Jahr 1980 auf 45 Quadratmeter im vorletzten Jahr. Diese Nahezu-Verdoppelung des individuellen Wohnraums ging wiederum einher mit einer Verringerung der Belegungsdichte von 2,9 Bewohnern einer Wohnung im Jahr 1970 auf 2,3 Bewohner 2014. Zersiedelung lässt grüssen.

Die Unbewohnbarkeit des Landes

Am grossen Auszug in Agglomeration und Dorf war indessen, zugegeben, nicht alles schlecht. Die plädierte Naturverbundenheit fand unter anderem in einer erstarkenden Naturgarten-Bewegung Ausdruck, die dann dringend benötigte Nischen für die Artenvielfalt schuf, und eine weitere Generation konnte in Spaziergangentfernung von einem Wald aufwachsen. Ausserdem: Wer weiss, wohin die Industrialisierung der Landwirtschaft fortgeschritten wäre, wäre nicht zwischendurch eine Wolke von Pestiziden über die stolz gepflegten Terrassen geweht?

Dem entgegen stehen aber ungebrochen die weiterhin wachsenden Pendlerströme und die fortschreitende Versiegelung von Bodenfläche. Die unentwegt propagierte "Stadt der kurzen Wege" blieb so auch mangels öffentlichen Drucks eine raumplanerische Fantasie. Ungeachtet dessen gewannen die Städte an Lebensqualität: Erholungsräumen wurde zögerlich wieder mehr Raum zugestanden, Luft und Wasser gereinigt, Abfälle zunehmend recycelt statt deponiert. All die Bemühungen resultierten schliesslich darin, dass unsere Städte heute verschiedentlich eine reichere Artenvielfalt aufweisen als das umgebende Kulturland. Das muss nicht daran liegen, dass sich die Stadt für all die Flora und Fauna ausgesucht eignet. Es liegt dann aber gewiss daran, dass die umgebende Landschaft dies noch weniger tut.

Die Schwärmerei von der Stadt

Wir können jetzt also verdutzt feststellen, dass das Leben in der Stadt in vielen Punkten die ökologischere Alternative zum Landleben darstellt. Der jungen Generation von Umweltsensitiven ist das klar, und sie versucht sich nun daran, noch mehr Natur, Biodiversität und Klimaschutz ins eigene Quartier zu holen. Eine unübersehbare Vielfalt an Initiativen und Trends legt davon Zeugnis ab: Bike- und Carsharingstationen, der vegane Imbiss an der Ecke und Reparatur-Stelldicheins, urban gardening, urban farming, urban hiking... Wir dürfen sogar zur Kenntnis nehmen, dass die berüchtigte Anonymität der Grossstadt auffasert. Das kleine Pärkchen am Fluss, das über Jahrzehnte Abend für Abend verwaist dalag, wird plötzlich überrannt, und Quartiervereine organisieren Strassenbrunchs und Hinterhofgrilladen, als würde es alsbald olympische Disziplin.

Dass sich dies fruchtbar fortsetzt, muss nun allerdings die Quadratur des Kreises geübt werden. Der Forderung nach Verdichtung stehen jene nach Freiraum und, in umweltschützerischer Hinsicht, jene nach ökologischer Durchlässigkeit entgegen. In diesem Sinne ist auch wünschenswert, dass dem urbanen Kind neben der virtuellen Ökosphäre ein Stück realer Natur zugänglich bleibt. Die energetische Optimierung der Altbauten sollte nicht all die Fledermäuse und Spatzen aussperren, die es sich hier gemütlich gemacht haben. Und darüber hinaus ist bei alledem im Auge zu behalten, dass sich die ökologisch orientierte Stadtplanung nicht auf die Entwicklung von "gated communities des guten Gewissens" einschiesst, sondern auch bescheideneren Lohnklassen offen bleibt.

Glücklicherweise verfügen wir Menschen, im Guten wie im Schlechten, in allen etwas weicheren Disziplinen als den blanken Naturgesetzen über viel Toleranz gegenüber Paradoxa. Die Chancen, all dies irgendwie unter einen Hut zu wurschteln, stehen also. Tatsächlich wird es schon mannigfach versucht. In den nächsten Wochen werfen wir einen genaueren Blick auf diesbezügliche Projekte und die verschiedenen dabei anfallenden Herausforderungen und Lösungsansätze.

 

Weiterführende Informationen/Quellen:
Metropolisierung, Städte und Agglomerationen - Bundesamt für Statistik (pdf)
Bau- und Wohnungswesen - Die wichtigsten Zahlen
Wohnfläche wächst doppelt so schnell wie die Bevölkerung

 

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