Immer öder. Immer normal.

Wie viele Tiere da draussen so ungefähr leben sollten: Das lernen wir in der Kindheit Wie viele Tiere da draussen so ungefähr leben sollten: Das lernen wir in der Kindheit

Unser inneres Bild davon, „wie die Natur so ist“; wie viele Tiere und Pflanzen normalerweise darin herumwuseln, scheint uns ziemlich stabil. Doch in Wahrheit wurde und wird es zusehends öder.

Diesen Januar kam eine internationale Studie um den Biologen Robert H. Cowie von der University of Hawai’i erneut zum Schluss, dass wir bereits in den Anfängen eines sechsten Massensterbens leben. In ihrer umfassenden Evidenzbewertung (in die speziell auch die Daten zu wirbellosen Tieren einflossen) lassen die Forscher weiterhin keinen Zweifel daran, dass vorwiegend menschliche Einflüsse für die rapide erhöhten Aussterberaten von Pflanzen und Tieren weltweit verantwortlich sind. Dies sind Befunde, die aus den verfügbaren Zahlen und Langzeitbeobachtungen klar zu Tage treten, die aber für uns einzelne Menschen nicht so offensichtlich erfahrbar sind. Das hängt direkt mit unserer Wahrnehmung und unserer Erfahrung von Natur zusammen: Mit dem Bild also, das wir uns von ihr machen.

Kinder im Wald

Während wir über die letzten Wochen zumeist den kulturellen Aspekten unseres Naturbilds nachforschten, beschäftigt uns heute noch ein sehr persönlicher. Die Vorstellung, „wie Natur so ist“, hängt wesentlich damit zusammen, wie sie sich uns in unserer Kindheit präsentiert. Wie viele Insekten fliegen an einem Sommerabend um die Laterne? Welche Tiere begegnen mir üblicherweise, und welche selten? Wie sieht ein Wald aus: Wie ein Sammelsurium verschiedenster Bäume mit reichlich Unterholz oder wie ein ausgeräumter Fichtenforst? Was schwimmt in dem Wasserglas, das ich aus dem Teich schöpfe? Welche Vogelstimmen höre ich an einem gewöhnlichen Frühlingsmorgen?
All diese Eindrücke schliessen sich in den Jahren, in denen wir sie erstmals erfahren, zu einem Gesamtbild zusammen. Sie prägen unsere ganz pragmatische Erwartung, die wir an „die Natur“ haben. Das kann sich mit späteren Erfahrungen selbstverständlich noch wandeln: Begegnen uns im Jugend- und Erwachsenenalter überwiegend Misch- oder gar Regenwälder, wird unser inneres Bild eines Waldes bald keiner Fichtenplantage mehr ähneln. Doch die Grundfesten werden in diesem ersten Erleben gelegt. Sie bestimmen, was wir an der Natur fürderhin als „normal“ erachten.

Diese Normalität ist ein zwar zwiespältiges, aber mächtiges Werkzeug, dem wir auch dringend bedürfen. In unserem menschlichen Miteinander schenkt sie uns das Set an Selbstverständlichkeiten, nach dem wir unseren respektvollen Umgang miteinander gestalten. Auf einer anderen Ebene ist „Normalität“ nicht nur ein soziales Konstrukt, sondern auch der grundlegende Kontext, nach dem wir unsere Umwelt erfahren und bewerten. Sie ist die Nulllinie, an der wir Veränderung erkennen.
Hinsichtlich unserer natürlichen Mitwelt kann sich in einem längeren Leben zwar einiges an wahrgenommenen Veränderungen ansammeln. Weshalb fliegen da plötzlich mehr Rotmilane als Mäusebussarde? Weshalb liegt immer mehr Plastik am Ufer? Und was haben eigentlich all die Füchse in der Stadt verloren? Doch überwiegend sind das schleichende und punktuelle Veränderungen, die uns – im Kontext des ebenfalls schleichenden Wandels unseres Anspruchs an die „normalen“ Lebensumstände – nur selten bewusst werden. Die Verluste lassen sich schliesslich noch weniger nachvollziehen, wenn wir während unseres Lebens verschiedentlich in neue Regionen umziehen, für die uns der frühe Referenzrahmen fehlt. Unser subjektives Erleben lässt so kaum den Schluss zu, dass sich die irdische Biodiversität tatsächlich in einem dramatischen Umbruch befindet. In ihrer erweiterten Dimension erschwert uns unsere Orientierung an Normalität die Sache noch weiter.

Kindeskinder in der Wüste

Das Problem ist dies: Die „Nulllinie“ der gefühlten Normalität verschiebt sich von Generation zu Generation. Das bedeutet in unserem Fall, dass sich das Naturbild des Grossvaters von jenem seiner Enkelin wesentlich unterscheidet. Jede Generation, die in einer Ära des Artensterbens aufwächst, erkennt fortlaufend eine ärmere Natur als die „normale“. Es fehlt ein längerfristiger, individuell erfahrener Bezugsrahmen, und die Erwartung, wie eine gesunde, lebendige Mitwelt aussehen könnte, verödet zusehends.

Dieses Phänomen lässt sich am Biodiversitätsverlust besonders eindrucksvoll festmachen. Es wirkt sich aber selbstverständlich genauso auf unsere Idee davon aus, wie viel Schnee im Winter fallen sollte, oder darauf, wie viel (und welche) Verschmutzung wir tolerieren. Seit die Wissenschaft begonnen hat, über Artenvielfalt, Bestandszahlen oder auch Wasserverschmutzung und Klimaverhältnisse Buch zu führen, lassen sich die Veränderungen wenigstens statistisch nachvollziehen. Aber die persönliche, emotionale Erinnerung ist dadurch nicht zu ersetzen, und die Verarmung der inneren Bilder einer lebendigen Natur zeigt sich umso verhängnisvoller, als es eine ist, die wir nicht mitbekommen. Da sich Umweltschutzbemühungen umso leichter verwirklichen lassen, die eine erinnerte „Normalität“ wiederherstellen sollen, als solche, die einen Zustand anzielen, der einer breiten Bevölkerung gar nie greifbar war, wird die Macht unserer inneren Naturbilder in diesem Zusammenhang sehr offensichtlich.

Wie wir – als Umweltschützerinnen jetzt – auf diese fliessende Verarmung unserer Erwartung an die „gesunde“ Natur reagieren können, ist eine offene Frage. Kinder mit möglichst viel Natur in Berührung zu bringen, ist sicher förderlich. Es kann aber auch immer nur eine Beziehung zu der Natur herstellen, die noch da ist. Vielleicht werden uns die audiovisuellen Medien da neue Lösungen eröffnen – darauf allzu viel Hoffnung zu stützen, scheint auf Grund der breiten sinnlichen Qualität unserer Erinnerungskonstruktion aber verwegen. Ganz gewiss gilt es erst mal bewusst zu halten, dass diese Verschiebung unserer Vision einer „normalen“ Natur überhaupt stattfindet. Noch zielführender wäre dann natürlich, regelmässig zu hinterfragen, wie unsere Gewohnheit, unsere Lebensgrundlagen über Gebühr auszubeuten, insgesamt „normal“ sein kann.

 

Quellen und weitere Informationen:
Biological Reviews: Strong evidence shows Sixth Mass Extinction of global biodiversity in progress
Trend in Ecology & Evolution: Societal extinction of species
Podcast br.de Radiowissen: Normalität – Was ist das überhaupt?

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