Die Schweiz ist die Open Air-Nation Nummer eins in Europa. Nirgendwo sonst finden gemessen an Fläche und Einwohnerzahl mehr Festivals statt als in der Schweiz. Hierzulande gehört es zur allgemeinen Sommerkultur, mindestens ein Festival zu besuchen. Die Besucherzahlen sind hoch, viele Festivals ausverkauft und es können international bekannte Bands verpflichtet werden. Wenn die Besucher das Festivalgelände nach mehreren Tagen Ausnahmezustand verlassen haben, hinterlassen sie deutliche Spuren: Das Gelände gleicht einer Müllkippe oder einem Kriegsschauplatz, je nach Betrachtungsweise. Verlassene und teilweise zerstörte Zelte stehen herum, die einst grüne Wiese hat sich in ein Schlammbad verwandelt und der liegengelassene Müll misst sich in Tonnen.
Das Abfallproblem hat sich in den letzten Jahren verschärft, wie das Beispiel vom Open-Air St. Gallen zeigt: Wurden im Jahr 2008 noch 100 Tonnen Abfall gesammelt, waren es dieses Jahr schon 200 Tonnen. Sind es im Jahr 2018 400 Tonnen? Wohl kaum. Wie bei fast jeder Branche steigt auch bei den Veranstaltern von Musikfestivals das Umweltbewusstsein. Um Anreize zu setzten, Festivals noch nachhaltiger zu gestalten, hat die European Festival Organisation Yourope den Green'n'Clean Award ins Leben gerufen. Das ist ein Preis, der an umweltfreundliche Festivals verliehen wird und garantiert, dass Massnahmen für die Nachhaltigkeit von Management, Transport, Abfallentsorgung, effiziente Energie- und Stromnutzung, Catering und Beschaffungswesen umgesetzt werden. In der Schweiz haben bisher 6 Festivals, darunter das Gurten Festival, das Paléo Festival und das Open Air St. Gallen, den Green’n’Clean Award erhalten.
"Wie eine Müllkippe der dritten Welt"
Grüne-Nationalrat Bastian Girod über das verlassene Festivalgelände in St. Gallen, Tagesanzeiger
Die meisten grossen Festivals haben auf ihrer Website eine eigene Rubrik, in der sie ihre Massnahmen zu einem grüneren Festival veröffentlichen. Dabei werden teilweise sehr innovative Ideen umgesetzt: Beim Gurten Festival in Bern etwa bestehen die abgegebenen Teller aus Zuckerrohrfasern. Nach Gebrauch werden sie an den Rücknahmestellen gesammelt und in einer Biogasanlage mittels Vergärung in Strom umgewandelt. Das grösste Schweizer Musikfestival, das Paléo Festival in Nyon, schreibt auf seiner Website, dass letztes Jahr über 50% der Besucher mit dem öffentlichen Verkehr angereist sind. Auch in Sachen Mülltrennung ist das Paléo Festival ökologisch vorbildlich: Über 50% des Abfalls wurden getrennt und wiederverwertet. Als weitere Massnahme wurde seit dem Jahr 2006 100% Ökostrom verwendet und es werden bevorzugt lokale Nahrungsmittel und Getränke verkauft. Das Open Air St. Gallen hat dieses Jahr ein System getestet, um die Zahl der zurückgelassenen Zelte nach Festivalende zu verringern. Zusammen mit der Internationalen Kampagne «Love Your Tent» versuchten die Veranstalter, das Publikum für die Problematik zu sensibilisieren. Die Besucher wurden mit Spots darauf hingewiesen, ihre Zelte nach Hause zu nehmen und im nächsten Jahr wieder zu verwenden.
Die Veranstalter setzen sich ökologische Ziele, die aber ohne die Mithilfe der Besucher nicht erreicht werden können. Speziell dieses Jahr wurden am Open Air St. Gallen trotz Sensibilisierungskampagne mehr Müll und Zelte zurückgelassen als je zuvor. Der Begriff „Müll“ ist hier vielleicht nicht der treffendste, an anderen Orten der Welt würden die Menschen Grills, Turnschuhe, Schlafsäcke oder ein vakuumiertes Steak wahrscheinlich nicht als solchen bezeichnen. Natürlich hängt dieses Phänomen auch mit der Witterung zusammen. Die Besucher lassen verschlammte Gegenstände eher zurück und das diesjährige Festival wird als besonders eindrückliche Schlammschlacht in die Open Air-Geschichte eingehen. Trotzdem ist es ein bedenkliches Zeichen der Wegwerfgesellschaft, wenn an Festivals intakte Zelte zurückgelassen werden, weil der Aufwand zur Reinigung als zu gross erscheint. Weshalb sich die Mühe machen und das Zelt abbauen, nach Hause nehmen, waschen und trocknen wenn man nächstes Jahr ein Zweierzelt für CHF 20.- kaufen kann?
Viele Musikinteressierte meiden die grossen Festivals, weil sie bei der dort praktizierten Konsumkultur nicht mitmachen wollen. Zum Glück gibt es genügend kleine Festivals, die ohne Atomstrom, Abfall und sogar ganz ohne Geld auskommen.
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