Kürzlich ist Ihr bemerkenswertes Werk über die Geschichte der Raumplanung in der Schweiz erschienen. Was war Ihr Anliegen, dieses Buch zu schreiben?
Dieses Buch ist ein nüchternes Werk. Es ist mir darum gegangen, die Fakten und Prozesse sowie die Grundideen des Werdens der schweizerischen Raumplanung aufzuzeigen. Ich wollte insbesondere sichtbar machen, was es braucht, um eine neue öffentliche Aufgabe und parallel die entsprechende wissenschaftliche Disziplin zu lancieren und zu etablieren. Das Buch handelt also von den Wurzeln, von den Intentionen und Zielen, von den Instrumenten und Massnahmen der Raumplanung aus der Sicht der Politik und der Wissenschaft. Die Darstellung reicht weit zurück, akzentuiert in das 19. Jahrhundert, in die Zeiten vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, vor allem hin zur Landesaustellung von 1939 in Zürich und zur grossen ETH-Tagung zur Landesplanung von 1942. Diese wurde zur ersten Weichenstellung: Gründungen der Forschungsstelle am Geographischen Institut der ETH Zürich und der Schweizerischen Vereinigung für Landesplanung im Jahre 1943. 1969 erging dann der Verfassungsartikel zur Raumplanung! Das Bundesgesetz folgte 1979 und 1980 das Bundesamt. Ein Bundesbeschluss über dringliche Massnahmen der Raumplanung - betreffend etwa die provisorischen Schutzgebiete - war ab 1972 vorausgeeilt.
Es gibt eine eigene typische Schweizer Geschichte zur Raumplanung. Diese ist nicht vergleichbar mit jenen in Deutschland, Frankreich oder England. Die föderative und demokratische Staatsform unseres Landes prägte das hiesige Verständnis der Raumplanung – bis in Fragen der Kompetenzordnung und der Partizipation hinein.
Wer sollte das Buch lesen?
Das Buch müsste neben den Raumplanern die Historiker der Zeitgeschichte und vor allem die Politologen, Ökonomen und auch die Umweltschützer interessieren. Die neusten Entwicklungen deuten zudem an, warum sich Städtebauer, Stadt- und Agglomerationsplaner und Verkehrsplaner als Partner der Raumplanung verstehen sollten. Hier wird für alle Beteiligten sichtbar, wie heikel es ist, auf der politischen und der wissenschaftlichen Ebene das neue Anliegen interdisziplinär und national zum Blühen zu erwecken.
Stichwort Umweltschützer: In Ihrem Buch weisen Sie darauf hin, dass die Raumplanung die ökologische Dimension unterschätzt hat. Das zeigt beispielsweise auch die Beurteilung im Bericht der Umweltorganisationen zum Zustand der Biodiversität. Die Raumplanung habe es bisher nicht geschafft, entscheidend zur Sicherung der Flächen für die Biodiversität beizutragen. Was läuft hier falsch?
Da muss man in die Geschichte zurückgehen. 1969 wurde der Verfassungsartikel zur Raumplanung durch Volk und Stände angenommen. Der Umweltartikel folgte 1971. Das RPG, also das Raumplanungsgesetz, trat auf 1980 in Kraft, das Umweltschutzgesetz erst 1985. Die inhaltliche Harmonisierung „Raumplanung – Umweltschutz“ hat nicht gehörig stattgefunden. Beide sahen sich um sich selbst besorgt. Die Raumplanung fokussierte die „Trennung Siedlungs-/Nichtsiedlungsgebiet“ und der Umweltschutz kämpfte sich von einem „Nur-Immissionsgesetz“ zu einem echten Umweltschutzgesetz mit breitem Fächer durch. Die Biodiversität ruft geradezu nach einem gemeinsam durchdachten materiellen Konzept für das Nichtsiedlungsgebiet.
Was hat sich im Ringen zwischen Raumplanung und Umweltschutz in den siebziger Jahren abgespielt?
Bereits in der Bearbeitungsphase der Gesetze begann sich eine gewisse Auffassungsdisparität bezüglich „Nichtsiedlungsgebiet“ abzuzeichnen. Die Raumplanung wurde für das Bauen ausserhalb der Bauzonen verantwortlich gemacht und das Nichtsiedlungsgebiet wurde in etwa als Landwirtschaftsgebiet verstanden. Der Umweltschutz beanspruchte demgegenüber den Landschaftsschutz/Bodenschutz und die Umweltverträglickeitsprüfung mit Auswirkungen aufs Räumliche für sich.......Daraus ergab sich keine Gesprächskultur. Fatalerweise gelang es bis heute nicht, das Nichtsiedlungsgebiet hinsichtlich seiner vielfältigen Funktionen zukunftsweisend und planerisch ganzheitlich zu bedenken. Das Manko ist nicht behoben – bis heute und wohl auch morgen nicht. Die Probleme werden aber nicht kleiner. Freizeitverhalten und Infrastrukturen bedrängen bereits oder bald einmal markant das Nichtsiedlungsgebiet. Angezeigt wäre deshalb – über alles gesehen – die planerische Neuaufarbeitung des Umganges mit dem Nichtsiedlungsgebiet inklusive der Aspekte der Biodiversität. Wie ein solches Konzept aussehen würde, kann ich mir als Jurist nicht kritisch-sachlich genug ausmalen.
Gerade wird die Zersiedelungsinitiative der Jungen Grünen im National- und Ständerat behandelt. Was halten Sie von der Idee der Einfrierung der Bauzonenflächen?
Da bin ich ganz dagegen. Natürlich müssen wir das Baugebiet konsequent in Grenzen halten. Mit dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel – höhere Wohnflächenansprüche, Zunahme von Singlehaushalten, Überalterung, Bevölkerungswachstum usw. – müssen wir aber in der Bemessung und Situierung der Bauzonen nuanciert flexibel bleiben. Schematische Lösungen sind in der Raumplanung fast immer falsch. Ich gehe allerdings davon aus, dass die Trennung „Nichtsiedlungsgebiet/Siedlungsgebiet“ bestehen bleiben muss. Aber: Unter welchen Bedingungen sowie wo und wie die Grenzen der Bauzonen nach Nutzungsarten und -intensitäten genau zu ziehen sind, das muss über die nachdenkende Planung besonnen erwogen werden, um dann konkret durch Richtpläne verbindlich gesteuert zu werden. Möglichst restriktiv, aber differenziert, weil die Verhältnisse in den Agglomerationen örtlich beziehungsweise regional massiv divergieren. Planerisches Prestigedenken muss endgültig zurückgefahren werden. Dies bedingt eine „mutige“, kompetente Raumplanung.
Ist das Denken in Agglomerationen so wichtig?
Dem ist so. Wir haben es heute – anders als zur Zeit des Erlasses des RPG – mit mittleren bis grossen Agglomerationen, sogar mit Metropolitanräumen – davon mindestens 2 von europäischem Rang - zu tun. Deren innere örtliche Verhältnisse und grösseren Strukturen decken sich nicht mit klassischen Vorstellungen. Zudem überschreiten Agglomerationen oft Kantonsgrenzen. Das Denken in Siedlungs- und Nichtsiedlungsgebieten – auf die Kantone und Gemeinden zugeschnitten – wird somit überdeutlich schwieriger und das kantonale richtplanerische Steuern erst recht. Es sind übrigens die S- Bahnen, die das Raumgeschehen überdurchschnittlich beeinflussen und zur Agglomerationsbildung wie auch zur realen Zersiedelung beitragen.
Dass beinahe allenthalben verdichtet gebaut werden muss, dürfte als Postulat unbestritten sein. Es stellen sich aber rechtliche Zusatzfragen:
a) Bedarf der Bund im Bereich des Baurechts zusätzlicher Kompetenzen, um die Innenentwicklung adäquat-qualifiziert steuern zu können?
b) Wie weit darf die Verdichtung rechtlich ungebremst forciert werden? Gibt es Grenzen? Welcher Art sind sie? Wie definiert sich die zu erhaltende „Lebensqualität“? Wie steht es nebenher um die Siedlungsökologie? Die These lautet: Verdichtung macht Sinn, wenn die Siedlungsqualität parallel gesteigert wird! Bedarf es neuer Rechtsnormen – auf welcher Ebene?
Persönlich neige ich dazu, beide Fragen positiv zu beantworten. Ob sich eine Änderung des heutigen Art. 75 BV zur Raumplanung aufdrängt? In meinem Buch finden sich Gedanken dazu.
Haben Raumplaner genügend gute Instrumente zur Förderung der Siedlungsqualität und der Biodiversität?
Die Kantone hätten sie, mindestens bezüglich des Siedlungsgebietes. Es bräuchte aber ein gleichwertiges, intensives Bedenken der Instrumente, Ziele, Massnahmen und der Verfahren für das Nichtsiedlungsgebiet. In diesem Punkt liegt die Verantwortung derzeit beim ARE und beim BAFU. Absolut zentral bleibt jene nach dem Verhalten der Landwirtschaft. Diese Frage ist heikel und betrifft in hohem Masse den Bund und den Bundesgesetzgeber.
Sie erwähnen immer wieder, dass es eine Philosophie braucht. Thema Ethik für die Raumplanung, welchen Stellenwert hat sie?
Ethik der Raumplanung ist mir ein Anliegen. Darüber habe ich schon sehr früh und viel geschrieben. Mit diesem Thema bin ich vielseitig auf offene Ohren gestossen, aber nicht bei den Planern; diese wollen nichts oder wenig von Ethik wissen. Sie befassen sich mit der Zukunft und dem Zweck-Rationalen. Flächenbilanzen wagen sie, Zonengrenzen ziehen sie, Methoden pflegen sie. Und sie vergessen darüber: Was ist angezeigt, gar geboten? Selbst das - vermeintlich? - Zweckmässige hat unter Umständen seine Grenzen, nämlich dann, wenn es das Gebotene missachtet. Eine der grossen ethischen Komponenten ist die „Ehrfurcht vor dem Leben“. Da es sich beim Raum um den „Lebensraum“ handelt, ist die Verbindung von Raum mit Ethik evident.
Die Dimension der Ethik zählt somit für die Raumplanung: Der Ethik ist Raum zu gewähren!
Herzlichen Dank für das informative, anregende Gespräch.
Kommentare (1) anzeigenausblenden
Die praktizierte bauliche Verdichtung ist keineswegs - wie Herr Lendi das postuliert - unbestritten. Denn erstens gibt es heute mehr Wohnfläche denn je, sowohl absolut als auch pro Person gerechnet und zweitens führt wegen nicht abgestimmter Marktmechanismen ein vermutlich hoher Anteil konkret genau zum Gegenteil, nämlich einer Nutzungsentdichtung. Hier ist die aktuelle Raumplanung mindestens auf einem Auge, liefert willfährig die räumlichen Ressourcen für eine Erhöhung der Bodenrendite und übernimmt dann auch noch widerspruchslos das politische Alibi namens "Wohnungsnot" als Grund für weitere Ansprüche.
Dieses Phänomen zeigt übrigens weitere grundlegende Defizite der bisherigen Raumplanung auf: Das Ignorieren von nicht-nachhaltigen Wachstumsprozessen. So wird das exzessive Bevölkerungswachstum einfach als gegebene Grösse behandelt. Aus einer falsch verstandenen humanistischen Position heraus wird deshalb die Regulierung eines der wichtigsten ramplanerischen Faktoren ganz ausser Acht gelassen und es werden statt dessen planungsrechtlich immer weitere Raumansprüche organisiert.
Uwe Scheibler, Wetzikon