«Können Tiere denken?»

Die Frage, ob Tiere denken können, ist eine wiederkehrende Frage in der Verhaltensforschung. Wie sich die Verhaltensbiologie über die Zeit entwickelte, schlüsseln wir in diesem ersten Beitrag unserer neuen Artikelserie auf.

«Können Tiere denken?»
"Ich wundere mich, also bin ich." (Magda Ehlers, Pexels)

«Können Tiere denken?» — darüber rätseln die Menschen schon seit der frühen Antike. Es ist eine wiederkehrende Frage in der Forschung über das Verhalten von Tieren. Die genaue Beobachtung und die Analyse des Verhaltens von Tieren reicht vermutlich bis in die früheste Vorzeit zurück: Es war ja lebensnotwendig, wenn man Tiere jagen wollte. Sicher belegt ist die Erforschung des Tierverhaltens aber seit dem klassischen Altertum.

In diesem Beitrag umreissen wir zunächst die historischen Meilensteine der Verhaltensforschung und -beobachtung von Tieren als Auftakt in die Artikelserie zur Verhaltensbiologie und ihren vielfältigen Erkenntnissen über die Tierwelt — und über uns Menschen.

Denken Tiere?

Schon in der Antike haben sich Philosophen also Gedanken über Handlungen, Entscheidungen und auch über das Bewusstsein von Tieren gemacht. Auf einen wirklich grünen Zweig kamen sie dabei aber selten, da sie die Frage «Denken Tiere?» so allgemein stellten, dass weder auf die möglichen Unterschiede zwischen Tierarten oder gar Individuen Rücksicht genommen wurde. Dies rührte daher, dass sie das tierische Denken und Handeln an demjenigen des Menschen messen wollten: Die Theorie der anthropologischen Differenz behauptet, es gäbe zwischen Mensch und Tier eine unüberschreitbare Grenze. In dem Kollektivsingular «das Tier» wurden alle Tiere versammelt, von der Auster bis zum Waldschimpansen. Den frühen Philosophen ging es hauptsächlich darum, die Grenze zu finden, die erklären soll, was Mensch und Tier unterscheidet — und damit zugleich eine Erklärung, was der Mensch selber ist.

Die Frankfurter Soziologen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sagten dazu: «Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus. Mit seiner Unvernunft beweisen sie die Menschenwürde». 

Ist irren wirklich nur menschlich?

Aristoteles’ Definition des Menschen als Tier, das über Sprache verfügt, hat eine prägende Wirkung in der Philosophiegeschichte. In De Anima verzeichnete er, dass nur Menschen im Besitz von Vernunft (logos bzw. ratio) und Verstand (nous bzw. intellectus) seien. Daraus ergibt sich die Frage, ob auch Tiere sich irren können, denn Irrtum ist nur da möglich, wo jemand fähig ist, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden. Nur wer sich ein Urteil bilden kann, kann darin später irren. Diese Denkschule fand bis ins Mittelalter zahlreiche Anhänger.

Adam Wodeham, ein mittelalterlicher Philosoph, wies in der Folge auf das erkenntnistheoretische Problem hin, dass wir lediglich das Verhalten eines Tiers beobachten können, nicht aber seine Gedanken von aussen sehen können. Es wäre daher möglich, dass Tiere ein «komplexes objektives Urteil» fällen können, wir es aber nicht erkennen. Als Konsequenz würde sich die Grenze zwischen Mensch und Tier verschieben. Womöglich um dem kirchlichen Dogma nicht zu nahe zu treten, erklärte er das Verhalten von Tieren anhand eines einfachen Reiz-Reaktions-Modells: Bestimmte äussere Impulse lösen eine vorgegebene, „instinktive“ Reaktion bei Tieren aus. Das Tier denkt somit nicht über seine Handlungen nach.

Dieses Modell wurde aber schon im Mittelalter durch den Augustinereremit Gregor von Rimini zurückgewiesen. Er argumentierte, dass sich anhand dieses einfachen Reiz-Reaktions-Schemas nicht erklären lasse, weshalb Tiere auf denselben Reiz teilweise unterschiedlich reagieren. Er schreibt den Tieren folglich eine gewisse Urteilsfähigkeit zu — und damit auch die Fähigkeit zum Irrtum.

Tiere als Aufziehpuppen

In der Neuzeit vertrat René Descartes wohl eine der provokantesten Thesen über die Verhaltensweisen von Tieren. Er sprach von Tieren als «aufgezogenen Uhren». Ihm zufolge verhalten sich Tiere ähnlich wie «gut konstruierte Maschinen» — vorhersehbar und unflexibel. Dabei lehnte er sämtliche Beispiele ab, in denen Tiere reflektiertes Verhalten zeigen; beispielsweise von Füchsen, die sich vorsichtig und prüfend über zugefrorenes Eis bewegen. Dieses Gegenbeispiel stammte von einem anderen französischen Philosophen, Michel de Montaigne, der das geistige Vermögen von Tieren humanisieren wollte.

Die wissenschaftliche Analyse des Verhaltens von Tieren im heutigen Sinn begann mit den Fragen nach der Ontogenese (der Entstehung und Entwicklung) ihrer Verhaltensweisen und der Herkunft ihrer Angepasstheit — eine Folge von Charles Darwins Hauptwerk Über die Entstehung der Arten. Untersucht wurde zunächst vor allem der sogenannte Instinkt. Die Verhaltensbiologie distanzierte sich somit erst einmal wieder von der Frage nach dem Bewusstsein von Tieren.

Verhaltensbiologie, wie wir sie kennen

Historisch betrachtet ist die Verhaltensbiologie eine gemeinsame Tochterdisziplin von Zoologie und Psychologie und eine Nachbardisziplin der Verhaltensgenetik. Ihre heutigen vielseitigen Zweige wurzeln in der vorwissenschaftlichen Naturbeobachtung, der Tierpsychologie des 19. Jahrhunderts, dem Behaviorismus und der „klassischen“ vergleichenden Verhaltensforschung des frühen 20. Jahrhunderts. Während die klassische vergleichende Verhaltensforschung sich vorwiegend mit der Frage beschäftigte, wie etwas passiert – also mit den auslösenden Reizen und den körperlichen Mechanismen der Verhaltenssteuerung – beschäftigen sich die neueren Zweige vorwiegend mit der Frage, warum es passiert.

Erst in den letzten 30 Jahren wagten sich Forscherinnen und Forscher wieder zunehmend an die Frage nach dem Bewusstsein von Tieren heran. Dies ausgelöst von der relativ neuen Erkenntnis, dass auch Tiere individuelles Verhalten zeigen und sich, ähnlich wie Menschen, in ihrer Persönlichkeit unterscheiden. Daraus entwickelte sich die Idee, dass auch sie fühlen und Emotionen haben.

In den nächsten Kapiteln der Artikelserie widmen wir uns neueren Forschungsergebnissen aus der Verhaltensbiologie, die dem Bewusstsein, dem Fühlen und den daraus folgenden Verhaltensweisen von Tieren auf die Spur kommen.

Quellen und weitere Informationen
Ludwig Huber (2021): Das rationale Tier — Eine Kognitionsbiologische Spurensuche, Suhrkamp Verlag.
Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (1987): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Fischer: Frankfurt am Main.
Wissenschaft im Dialog (22.03.2017): Haben Tiere ein Bewusstsein und inwieweit unterscheidet es sich von dem des Menschen?