«Lernen Tiere voneinander?»
Die Lernfähigkeit ist für die meisten Lebewesen eine Sache des Überlebens. Dabei gibt es viele Parallelen zwischen uns Menschen und anderen Tieren.

Um zu überleben, müssen Tierkinder viel lernen. Manche sind von ihrer Geburt an weitgehend auf sich allein gestellt und müssen ihre eigenen Erfahrungen machen. Andere können sich wichtige Verhaltensweisen von ihren Eltern und Artgenossen abschauen.
Lernen durch Versuch und Irrtum
Schildkröten sind ihr Leben lang Einzelgänger. Die eindrückliche Szene, wenn winzige Meeresschildkröten aus dem sandbedeckten Gelege schlüpfen und sich trotz zahlreicher Hindernisse ins Meer vorkämpfen, haben wohl die Meisten schon einmal gesehen. Ab diesem Zeitpunkt sind sie auf sich alleine gestellt und müssen sich vor allem auf ihre angeborenen Fähigkeiten und ihre eigenen Erfahrungen stützen. Wo es Futter gibt oder Gefahren lauern erlernt ein Einzelgänger vorwiegend durch Zufall, also Lernen durch Versuch und Irrtum.
Lernen von anderen
Tiere, die in sozialen Strukturen leben, können sich an ihren Artgenossen orientieren. Ein gutes Beispiel für das Erlernen komplexer Zusammenhänge sind Orang-Utans. Bei diesen dauert es — wie bei uns Menschen — mehrere Jahre, bis sie sich die zum Überleben notwendigen Fähigkeiten angeeignet haben. So lernt ein junger Orang-Utan während der ersten acht Lebensjahre alles von seiner Mutter; etwa welche Früchte geniessbar und welche zu meiden sind. Die Jungen essen vorwiegend das, was ihre Mütter zu sich nehmen. Unbekanntes lassen sie liegen. Mit fortschreitendem Alter interessieren sich Orang-Utans für das Verhalten anderer Artgenossen und lernen durch Beobachtung auch Verhaltensweisen, die von jenen der Mutter abweichen. Dadurch können sich beispielsweise neue Techniken, an Nahrung zu gelangen, innerhalb einer Population verbreiten. Primaten sind aber nicht die einzigen Lebewesen mit der Fähigkeit zum sozialen Lernen. Auch bei gewissen Insekten, Fischen, Vögeln, Reptilien, Amphibien und einigen anderen Säugetieren werden sozial erlernte Verhaltensweisen beobachtet.
Weitergegebenes Wissen
Werden im Sozialverband erlernte Verhaltensweisen von Generation zu Generation weitergegeben, spricht man von Kultur. Bei uns wird das meiste Wissen von Mensch zu Mensch weitergegeben und verfeinert. In der Tierwelt sind die diebischen Javaneraffen in Bali ein ganz besonderes Beispiel. Der Uluwatu-Tempel auf der indonesischen Insel Bali ist ein beliebtes Touristenziel. Das haben auch die dort heimischen Langschwanzmakaken bemerkt. Die Affen haben gelernt, dass sie die Touristen bestehlen und das Diebesgut danach gegen Essen eintauschen können. Über Generationen haben die Affen das Wissen weitergegeben, welche Gegenstände für uns Menschen besonders wertvoll sind — und wofür sie „Lösegeld“ verlangen können. Dieses einzigartige Verhalten zeigen die Affen bislang nur in der Gegend des Tempels. Forscher haben weitergehend beobachtet, wie neu zugezogene Makaken-Gruppen diese „Diebstahl-Strategie“ ebenfalls erlernten. Das Entstehen und die Weitergabe dieses Verhaltens innerhalb und zwischen Affengruppen gleichen der Evolution unserer eigenen kognitiven Fähigkeiten.
Tiere können zweifeln
Das Lernen kann noch auf einer höheren Stufe erfolgen. Wir Menschen sind ab einem gewissen Alter dazu fähig, über unser eigenes Denken nachzudenken und von unserem eigenen Wissen zu wissen. Der Fachbegriff dafür lautet Metakognition: Die Auseinandersetzung mit den eigenen kognitiven Fähigkeiten. Oft zeigt sich dieses Nachdenken über das Denken als Zweifel an den eigenen Fähigkeiten.
Dass wir Menschen nicht die einzigen Lebewesen mit dieser „Fähigkeit zum Zweifeln“ sind, zeigt eine Untersuchung aus der Verhaltensbiologie. Die besondere Herausforderung bei ihrem Nachweis bestand wie immer darin, dass Tiere mögliche Unsicherheiten und Zweifel nicht ausdrücken können. John Smith von der Universität in Buffalo und seine Kollegen aus Montana und Georgia fanden jetzt eine Möglichkeit, dieses Problem zu umgehen: Sie entwarfen für Tiere Gedächtnis- und Wahrnehmungstests mit hohem und niedrigem Schwierigkeitsgrad. Geprüft wurden Menschen, eine Gruppe von Rhesusaffen und ein Delphin. Lösten sie die Aufgaben erfolgreich, bekamen sie eine Belohnung. Schafften sie es nicht, diese zu lösen, wurden sie zur Bestrafung vom Spiel ausgeschlossen. Die Ergebnisse des Experiments: Sowohl die Rhesusaffen als auch der Delphin zeigten in ihren Reaktionen ganz deutlich eine Form von Verunsicherung. Sie zögerten wiederholt vor oder während schwierigerer Aufgaben. Das Muster war exakt das gleiche, wie es auch die menschlichen Probanden zeigten. Daraus schliessen die Forscher, dass sowohl die Rhesusaffen als auch der Delphin gelernt haben, ihre eigenen kognitiven Fähigkeiten einzuschätzen bzw. diese zu reflektieren — dass sie also deutliche Parallelen zur Metakognition beim Menschen zeigen.
Dass Tiere lernen, wird wohl die Wenigsten von uns grundsätzlich überraschen – schon gar nicht die Halter von Haus- oder Nutztieren. Verblüffend ist es dann schon eher, dass wir ihnen gleichzeitig über die längste Zeit die Fähigkeit zum Denken absprachen. Das dürfte weitgehend daran liegen, dass wir als Massstab eines „richtigen“ Denkens unsere eigenen kognitiven Fertigkeiten heranzogen. Gerade auch in der Erforschung des Lernverhaltens von Tieren lässt sich beobachten, wie unterschiedliche Anforderungen des Lebensraumes und des Sozialverbandes auch unterschiedliche Arten des Denkens fördern.
J.-B. Leca et al. (2021): Acquisition of object-robbing and object/food-bartering behaviours
Smith, J. D. und D. A. Washburn (2005): Uncertainty monitoring and metacognition by animals
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